Urteil zu Benutzungspflichten auf Gefällstrecken

Geister-Gehwegradelpflicht

Die Kreisverwaltung Kaiserslautern hatte vor einer Weile angekündigt, die Geistergehwegradelpflicht bei 7,4 % Gefälle bei Martinshöhe aufheben zu wollen. Ob das bislang geschehen ist, konnte ich leider noch nicht überprüfen. Das war wirklich erstaunlich, weil jene Behörde dafür bekannt und berüchtigt ist, wirklich alles bebläut zu lassen; sei es auch ein nur 1,5 m schmales, nicht einmal straßenbegleitendes Handtuch wie auf der Atzel bei Landstuhl. Man kam jedoch somit auch dem Urteil 1 LB 505/15 des Oberverwaltungsgerichtes Mecklenburg-Vorpommern vom 29.10.2019 zuvor, in welchem es vor allem um das Thema angeordnete Benutzungspflichten per Getrennter Geh- und Radweg oder Gemeinsamer Geh- und Radweg an Gefällstrecken, aber auch den meiner Ansicht durchaus fragwürdigen Einfluss technischer Regelwerke wie den ERA 2010 der FGSV auf die Rechtsprechung, geht.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich zum Thema Gefälle ausgerechnet ein Oberverwaltungsgericht aus dem hohen (flachen) Norden äußern musste. So habe ich, wenn ich an Mecklenburg-Vorpommern denke, eher viele Seen, Wald – und eine brettebene Landschaft vor meinem geistigen Auge. 😉 Es ging hierbei im Wesentlichen um einen relativ kurzen, 100 m langen Abschnitt mit 4 % Gefälle. Der Kläger hatte nach der Urteilsverkündung auch in seinem Blog darüber berichtet, wo man ebenfalls einige Fotos der Örtlichkeiten findet. Der schmale, rosafarbene Pflasterstreifen erinnert mich spontan an das (zum Glück bereits vor vielen Jahren entschilderte) Elend in der Pirmasenser Straße in Zweibrücken, welches Thomas Ruf bereits vor vielen Jahren dokumentiert hatte. Im Verlauf der Auseinandersetzung wurde nämlich aus einem vermeintlich getrennten Geh- und Radweg per Getrennter Geh- und Radweg von der Behörde urplötzlich ein gemeinsamer Gemeinsamer Geh- und Radweg gemacht, obwohl sich an der unterschiedlichen Pflasterfärbung nichts änderte.

Die Geschichte spielt in der Inselstraße in Redentin bei Wismar; die mapillary-Aufnahmen datieren vom Mai 2017. Dass hier überhaupt ein Oberverwaltungsgericht bemüht werden musste, zeigt, dass unser Rechtssystem insb. in Sachen Radwegbenutzungspflichten in Deutschland einfach nicht funktioniert; nicht nur, weil der Kläger insgesamt über 6 Jahre darauf warten musste, dass eine eindeutig rechtswidrige Benutzungspflicht aufgehoben wird.


Verfahrensgang

Der Kläger beantragte am 25. April 2013 erstmals für den auch nur auf der östlichen Seite gelegenen, mit Getrennter Geh- und Radweg beschilderten Weg aus Gründen der Verkehrssicherheit eine Überprüfung und Neubescheidung (Rn. 2).

Die Beklagte lehnte dies im Wesentlichen unter Verweis auf die Verkehrsstärke (500 bis 700 Kfz die Stunde), die Fahrbahnbreite und ein Überholverbot (für Kfz) mittels Bescheid vom 11. November 2013 ab. So heißt es in Rn. 4 u. a.:

Die die Benutzungspflicht regelnden Verkehrszeichen seien bestandskräftig und rechtmäßig angeordnet. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO für Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs seien erfüllt. Aufgrund der Verkehrsbelastung, der vorhandenen Fahrbahnbreiten und der zulässigen Höchstgeschwindigkeit sei von einer das allgemeine Risiko erheblich übersteigenden Gefahrenlage für das Führen des Radverkehrs auf der Straße auszugehen. Der stadtauswärts Richtung P. führende Radweg sei nicht zu schmal und erlaube auch im Übrigen hinsichtlich der Verkehrsflächen, der Linienführung sowie des Umfallgeschehens eine gefahrlose Benutzung.

Der damalige Satz 2 entspricht dem heutigen Satz 3. Peinlich, dass eine Straßenverkehrsbehörde nicht den Unterschied zwischen „Straße“ und „Fahrbahn“ kennt. Auch wichtig: Am 5. März 2014 wurden die Getrennter Geh- und Radweg durch Gemeinsamer Geh- und Radweg ersetzt (Rn. 5).

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Auch dieser wurde am 18. März 2014 zurückgewiesen; die Begründung wurde im Kern nur wiederholt. Darin wurde sich auch auf die ominösen, auf keiner wissenschaftlichen Grundlage basierenden Diagramme zur von der Verkehrsdichte abhängenden Verträglichkeit einer Führung des Radverkehrs auf der Fahrbahn berufen (Rn. 6):

Die Verkehrsbelegung der L 12 bewege sich an der Grenze der in der ERA 2010 genannten Belastungsbereichen II und III. Benutzungspflichtige Radwege kämen nach Tabelle 8 der ERA 2010 bereits im Belastungsbereich II unter bestimmten, hier vorliegenden Bedingungen in Betracht. Durch die gemeinsame Führung des Radverkehrs mit dem Fußgängerverkehr entstünden auch keine solchen Gefahren, die etwaige Gefahren bei einer gemeinsamen Führung des Radverkehrs mit dem Kfz-Verkehr (Mischverkehr) auf der Fahrbahn übersteigen würden. (…) Die Längsneigung rechtfertige keinen Ausbau des Geh- und Radweges breiter als das Regelmaß.

Hiergegen wurde am 7. April 2014 Klage vorm Verwaltungsgericht Schwerin erhoben. Randnummer 8 zur Klagebegründung:

Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen, die angegriffene Radwegebenutzungspflicht sei rechtswidrig. Die Voraussetzungen nach § 45 Abs. 9 StVO lägen nicht vor. Der Beklagte habe keine besonderen Gefahren für den Mischverkehr auf der Fahrbahn festgestellt und auch kein Ermessen ausgeübt.

Leider hatte das Verwaltungsgericht die Klage am 15. Juli 2015 vollumfänglich zurückgewiesen.


Urteil des VG Schwerin

Auf eine genauere Kommentierung der Argumentation des VG verzichte ich an dieser Stelle; wer möchte, kann sich die Rn. 15 bis 18 ja selbst durchlesen. Verkehrsstärke und Fahrbahnbreite begründeten eine „besondere örtliche Gefahrenlage“, auch das Ermessen sei fehlerfrei ausgeübt worden. Erwähnenswert ist jedoch die Rn. 18. Während in Rn. 15 die bereits erwähnten Diagramme in den ERA 2010 eine besondere Gefahrenlage belegen sollen, seien die Vorgaben zu Mindestbreiten jedoch nur unverbindliche Empfehlungen:

(…) Die von der ERA 2010 genannten Mindestmaße seien Empfehlungen, weil es sich hier nicht um einen Neubau bzw. eine wesentliche Änderung des Radweges, sondern um einen bereits bestehenden Geh- und Radweg handele. Deshalb könnten von diesen Empfehlungen Abstriche gemacht werden. (…)

Ergänzend verweise ich auch auf den Blogartikel des Klägers zum damaligen Urteil.


Berufung und Urteil

Das OVG Mecklenburg-Vorpommern ließ seine Berufung wegen ernstlicher Zweifel an dessen Richtigkeit zu. Die Begründung des Klägers (Rn. 21 – 23) kann ich fast vollumfänglich unterschreiben. Insbesondere der Verweis auf die ERA-Diagramme stößt mir regelmäßig übel auf, wenn es darum geht, sich „besondere örtliche Gefahrenlagen“ zusammenzureimen, um Radfahrer von der Fahrbahn fernzuhalten.

Er überzeugte damit auch die Richter des 1. Senats des OVG. Allerdings nicht im vollen Umfang, denn auch das OVG sieht hier eine auf der Verkehrsstärke beruhende, „besondere örtliche Gefahrenlage“ (Rn. 38 – 44). Das Gericht lässt sich hierzu im epischer Breite, vor allem unter Verweis auf die ERA-Diagramme aus, warum die Fahrbahn dieser an und für sich stinknormalen Dorfstraße unweit der Ostsee für Radfahrer zu gefährlich sei.

So bleibt nur ein Ermessensfehler. Ein Solcher läge auch deshalb vor, da hier ein optisch und baulich getrennter Geh- und Radweg (erst im März 2014) per Gemeinsamer Geh- und Radweg als gemeinsamer Geh- und Radweg ausgewiesen wurde. In Rn. 47 heißt es u. a.:

Nach Punkt 3.6 der ERA 2010 („Beschilderung“) wird bei gemeinsamer Führung des Radverkehrs mit dem Fußgängerverkehr eine Trennung durch Markierung oder durch andere Elemente nicht vorgenommen. Die hier vorliegende unterschiedliche Markierung der Anlage durch zweifarbige Pflasterung findet in den Ermessensausführungen des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2014 jedoch keine Erwähnung.

Ebenfalls entscheidend dafür, dass das OVG hier einen Ermessensfehlgebrauch erkannte, war das Thema Gefälle. Das Gericht hierzu in den Randnummern 48 und 49:

Keine ausreichende Berücksichtigung findet vor allem die mit dem Gefälle der Inselstraße im Bereich R. (2% bis 4%) für einen gemeinsamen Geh- und Radweg verbundene Problematik. (…)

Diese Ausführungen übersehen, dass die ERA 2010 unter Punkt 3.6 spezielle und hier einschlägige Empfehlungen für die gemeinsame Führung von Rad- und Fußgängerverkehr vorsehen. Dort wird zunächst auf die Ausnahmefunktion solcher Anlagen hingewiesen, die nur dort vertretbar seien, wo die Netz- und Aufenthaltsfunktion beider Verkehre gering sei. Sodann enthalten die Hinweise eine Aufzählung von Ausschlusskriterien für die gemeinsame Führung von Fußgänger- und Radverkehr, wozu auch „starkes Gefälle (mehr als 3 %)“ zählt, denn bei Gefälle nimmt die Geschwindigkeit des Radverkehrs zu (Punkt 2.3.5 ERA 2010 „Kriterium Längsneigung“). Eine Auseinandersetzung mit diesem speziellen Ausschlusskriterium fehlt. Sie ist auch nicht verzichtbar, weil das fragliche Gefälle der Inselstraße zwischen 4% und 0% schwankt. Der 4 %ige Gefälleabschnitt erstreckt sich auf einer Länge von 100 m, was für die Aufnahme erhöhter Geschwindigkeiten der Radfahrer bereits ausreicht, zudem weitere Abschnitte ebenfalls im Gefälle verlaufen und somit nicht zu einer Reduzierung der gefahrenen Geschwindigkeiten beitragen. Die Ausführungen im Widerspruchsbescheid zu den den Verkehrsteilnehmern allgemein obliegenden Sorgfaltspflichten nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 StVO sind nicht ermessensgerecht, weil es um konkrete Gefahren auf dem gemeinsamen Geh- und Radweg geht, die trotz der verkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten aller Verkehrsteilnehmer auftreten können. Bei anderer Sichtweise könnte niemals von der Gefährlichkeit einer bestimmten Verkehrsführung gesprochen werden, auch nicht von Gefahren im Mischverkehr auf der Fahrbahn i. S. v. § 45 Abs. 9 S. 3 StPO, die durch ausnahmslos vorschriftsmäßiges und sorgfaltsgerechtes Verkehrsverhalten ausgeschlossen wären.

§ 45 (9) S. 3 StPO? Der letzte Satz zeigt ja, dass die Richter ja eigentlich auf dem richtigen Weg sind. Warum sie auf der Fahrbahn dennoch eine „besondere örtliche Gefahrenlage“ sehen wollten, lässt sich wohl mit Angst vor der eigenen Courage erklären?

Nun hätte man hierfür meiner Ansicht eigentlich nicht einmal die ERA 2010 als Beleg oder Argumentationshilfe benötigt, denn jeder, der mal in einer nicht gänzlich flachen Gegend Rad gefahren ist, weiß, wie begünstigend sich bereits ein leichtes Gefälle auf die Geschwindigkeit auswirkt. Dass so etwas mit Fußgängerverkehr, aber auch Rad-Gegenverkehr auf in aller Regel sehr schmalen Wegen meiner Ansicht nach überhaupt nicht vertretbar ist, ist offenbar den meisten Behörden, die auch an steileren Straßen (wie z. B. immer noch bei Lemberg) stur Gemeinsamer Geh- und Radweg angeordnet lassen, weiterhin völlig egal.

Lemberg


Fazit

Ich bin wirklich kein großer kein Freund der ERA 2010. Dieses Urteil zeigt meiner Ansicht nach auch genau, warum: Hier werden letzten Endes Werke nicht demokratisch legitimierter und überwiegend intransparenter Institutionen (von faulen Richtern…) als Quasi-Rechtsnormen betrachtet – und danach Urteile gefällt. Inbesondere die Tatsache, dass selbst das OVG in dieser Dorfstraße eine „besondere örtliche Gefahrenlage“ sehen will – und dies auch noch im Wesentlichen mit dem Verweis auf die ERA 2010 begründet, bestärkt mich in meiner Ablehnung. Es existiert bis zum heutigen Tage kein wissenschaftlicher oder statistischer Nachweis dafür, dass die Verkehrsstärke überhaupt einen besonderen Einfluss auf das Unfallrisiko von Radfahrern hätte.

In diesem Fall ist das zwar wegen dem Gefälle nochmal gutgegangen. Aber das Gefälle war letztlich auch nur der „Rettungsanker“, der erst durch die (behauptete) „besondere Gefahrenlage“ notwendig wurde; andernfalls hätte sich das Gericht dazu wohl auch gar nicht mehr in nennenswerter Weise geäußert. Immerhin haben wir somit nun ein OVG-Urteil auch zum Thema Gefällstrecken auf „gemeinsamen Geh- und Radwegen“, auf welches wir gegenüber ähnlich bockigen Straßenverkehrsbehörden verweisen könnten. Was ich z. B. gegenüber der Kreisverwaltung Südwestpfalz im Falle Lemberg inzwischen auch getan habe.

Daher an dieser Stelle noch einmal einen ausdrücklichen Dank an den Kläger, der dafür ziemlich viel Zeit, Geduld und auch Geld aufwenden musste!

3 Gedanken zu „Urteil zu Benutzungspflichten auf Gefällstrecken“

  1. Dein Fazit kann ich zu 100 Prozent unterschreiben.
    Mittlerweile gehe ich davon aus, dass man eine Benutzungspflicht allein mit § 45 Abs. 9 StVO niemals erfolgreich wegklagen können wird, außer bei irgendwelchen PillePalle Straßen mit 500 KFZ am Tag.

  2. Es ist auch schon schlimm genug, dass solche Fragestellungen in epischer Breite in Gerichtsverhandlungen erörtert werden müssen…

    Ich hoffe immer noch, dass die Politik den Radverkehr ggü. Kraftfahrzeugen in Zukunft gleich- oder besserstellt (zumindest innerorts und auf normalen Landstraßen, nicht auf Autobahnen o.ä.).

    Da finde ich auch die Forderung des ADFC nicht schlecht, dass, wenn kein (guter?) Radweg vorhanden ist, Tempo 30 innerorts und Tempo 70 außerorts gelten sollte. Das sollte Einwände bzgl. Gefährdung schwerer machen.
    Und wenn eine Gefährdung bestehen sollte (was noch zu beweisen wäre), müsste das Gesetz die Radfahrer schützen statt sie einzuschränken (nur um den Autofahrern den Weg freizumachen).

    1. Och, ich würde eigentlich sogar so weit gehen und vom Bund verlangen, dass er an bestimmten Abschnitten entlang einer Autobahn oder Kraftfahrstraße auch einen „Bundes-Radweg“ bauen muss. Das gilt vor allem für Tunnel und Talbrücken. Realistische Chancen sehe ich aber nicht einmal bei der „normalen“ Gleichstellung. Sieh dir das Elend in Sachen B 10 an. 🙄

      Tempo 30 ist mir als Radfahrer innerorts zu wenig. Warum soll ich auf einer Hauptverkehrsstraße mit starkem Gefälle unnötig Bremsbeläge vergeuden? Es würde mir schon reichen, wenn es abseits davon mehr T-30-Zonen gäbe. Da besteht hier in der Gegend noch gewaltiger Nachholbedarf. Radwege sind gerade Innerorts viel zu gefährlich; egal bei was für einer zHg. T 70 außerorts kann man ja beantragen. Sollte man aber nur machen, wenn die Gefahr, dass ein Wegelchen gebaut wird, relativ gering ist. Aber auch hier wieder der Verweis auf die B 10 – dann wird der Radverkehr zur Not einfach verboten und auf „Wirtschaftswege“ abgeschoben.

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