Durchgezogene Linie und Überholverbot?

Wie gesagt: Es ist nicht mehr nur kafkaesk, was man regelmäßig erlebt, wenn man den LBM Rheinland-Pfalz auf Verstöße gegen die StVO und die zugehörigen, vom Bund erlassenen Verwaltungsvorschriften hinweist. Dies betrifft nicht nur durchgezogene Linien an sich, sondern auch Verkehrszeichen, die trotz durchgezogener Linie angeordnet und aufgestellt werden. Nach der mehrmonatigen Sanierung der B 270 zwischen dem Abzweig Petersberg und der Biebermühle fiel mir auf, dass vor der Überführung über die Bahnstrecke nach Landau erneut Zeichen 276 StVO neu aufgestellt wurden, wo eigentlich keine stehen dürften. Das Land Rheinland-Pfalz ist allerdings auch in dieser Angelegenheit der Meinung, dass es diesbezüglich seine eigenen Regelungen treffen darf.

Das Beitragsbild zeigt die neuen Verkehrszeichen an der B 270. Sie stehen in Höhe des Asphaltwerks an der selben Stelle wie die alten, welche im Zuge der Sanierung entsorgt wurden. Google Street View hat den Zustand im September 2023 dokumentiert. Es ist allerdings nicht die einzige Stelle, an welcher Überholverbote angeordnet werden, wo das Überholen bereits durch die durchgezogene Linie verboten ist.

Dies betrifft u. a. auch die K 6 zwischen Winzeln und Pirmasens, wo auch das beschissene Wegelchen liegt, dessen rechtsseitigen Benutzungszwang ich seit Jahren erfolglos zu bekämpfen versuche. Das folgende Foto stammt aus dem Jahr 2020.

Die damals noch recht neue Leiterin der Straßenverkehrsbehörde bekam am 15. April 2020 von mir unter anderem einen Hinweis, dass die Beschilderung gegen die VwV zu Zeichen 276 StVO verstößt. In Randnummer 2 ist das Folgende zu lesen:

Wo das Überholen bereits durch Zeichen 295 unterbunden ist, darf das Zeichen nicht angeordnet werden.

Nun könnte man darüber streiten, ob diese Regelung in der VwV wirklich Sinn ergibt. Denn das Überfahren einer durchgezogenen Linie wird in der BKatV grundsätzlich wesentlich milder geahndet als ein Verstoß gegen ein per Zeichen 276 angeordnetes Überholverbot. In der Anlage zur BKatV ist gemäß den Tatbeständen in den laufenden Nummern 19 das Überholen bei angeordnetem Überholverbot oder über eine durchgezogene Linie mit konkreter Gefährdung mit einem Bußgeld von 100 bis 300 Euro ziemlich teuer und zieht in schwereren Fällen ein einmonatiges Fahrverbot nach sich. Die Voraussetzung hierfür lautet folgendermaßen:

Überholt, obwohl nicht übersehen werden konnte, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen war, oder bei unklarer Verkehrslage

Das, was ich als Radfahrer auf solchen Straßen ständig erlebe, ist allerdings in aller Regel dem Grunde nach erst einmal nur eine Ordnungswidrigkeit, die laut den laufenden Nummern 155 ein Bußgeld in Höhe von 10 bis 35 Euro nach sich zieht.

Ein Verstoß gegen ein per Verkehrszeichen angeordnetes Überholverbot wird allerdings gemäß laufender Nummer 153a immer mit mindestens 70 Euro bestraft. Als Bonus erhält man gem. lfd. Nr. 3.2.4 der Anlage 13 zur FeV auch noch einen Punkt in Flensburg.

Überholen von Radfahrern verboten

Dies gilt im Übrigen auch für das Zeichen 277.1, welches ich in Pirmasens oder dem Landkreis Südwestpfalz garantiert niemals zu Gesicht bekommen werde.

Vor einer Weile erfuhr ich via X von einem Fall in Stuttgart. Im Schwabtunnel wurde ein „Verbot des Überholens von einspurigen Fahrzeugen für mehrspurige Kraftfahrzeuge und Krafträder mit Beiwagen“ angeordnet. So lautet die offizielle Bezeichnung des Verkehrszeichens gem. lfd. Nr. 54.4 der Anlage 2 zur StVO. Für weitere Hintergründe empfehle ich den Beitrag von Christine Lehmann.

Ein Problem ist allerdings auch dort, dass gemäß der VwV zum Zeichen 276 ein explizites Überholverbot grundsätzlich gar nicht mehr hätte angeordnet dürfen, weil das Überholen dort aufgrund der ebenfalls markierten durchgezogenen Linie (Zeichen 295) bereits verboten ist. Die VwV zu den Zeichen 277.1 lässt hier allerdings (ob nun gewollt oder nicht) eine Lücke, denn sie verweist nicht explizit auf die Nummer II zu Zeichen 276.

Zeichen 277.1 soll nur dort angeordnet werden, wo aufgrund der örtlichen Gegebenheiten, insbesondere aufgrund von Engstellen, Gefäll- und Steigungsstrecken, oder einer regelmäßig nur schwer zu überblickenden Verkehrslage ein sicherer Überholvorgang von einspurigen Fahrzeugen nicht gewährleistet werden kann.

Im Übrigen wird auf die Nummern III und IV der VwV zu Zeichen 276 „Überholverbot“ verwiesen.

So ist die Anordnung trotz Zeichen 295 in Stuttgart grundsätzlich korrekt erlassen worden.

Regelfall Zeichen 295?

Wie dem auch sei: Der Verordnungsgeber geht meiner Meinung nach grundsätzlich davon aus, dass die zuständigen Behörden auch hinsichtlich der Anordnung von Zeichen 295 StVO vor allem den § 39 (1) StVO beachten – und daher stets kein Verkehrszeichen – oder wenn, dann das mildere Mittel (Zeichen 340) anordnen. Genau das tun sie aber nach meiner Beobachtung nicht. Auch an der K 6 gab es übrigens im Jahre 2013 noch Leitlinien (Zeichen 340), statt einer durchgezogenen Linie.

Inzwischen dürfen Auto- Radfahrer (nicht nur) dort eben nicht mehr überholen, weil sie innerhalb des Fahrstreifens den vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 bis 2 Metern nicht mehr einhalten können. Natürlich machen sie es trotzdem. Ich könnte hier jetzt unzählige Clips von Kfz-Nutzern präsentieren, die mich auch im Zuge der K 6 auf eine mehr als fragwürdige Weise überholen, obwohl sie es aufgrund der durchgezogenen Linie nicht dürf(t)en.

Die inflationäre Markierung von Zeichen 295 begünstigt meiner Meinung und Erfahrung nach gerade in Bezug zum Überholen von Radfahrern eine völlige Ignoranz der Verkehrsteilnehmer gegenüber dem eigentlichen Regelungsgehalt dieses Verkehrszeichens.

Denn jenes ist in der Tat an zahlreichen Stellen überflüssig, da Radfahrer dort eigentlich relativ problemlos überholt werden könnten. Meistens steht dort aber eben gerade kein Zeichen 276, welches die wesentlich passendere und zielführendere Regelung beinhaltet.

So entwickelt sich über Jahrzehnte ein Gewohnheitsrecht, durchgezogene Linien (einschließlich Sperrflächen; Zeichen 298) immer und überall zu ignorieren, wenn man einen Radfahrer überholen will. Selbst dann, wenn die durchgezogene Linie an der betreffenden Stelle (ausnahmsweise) mal sinnvoll markiert wurde.

Der LBM zum doppelten Überholverbot

Soviel erst einmal zur allgemeinen Problematik. Der meine Eingaben seit Jahren konsequent zurückweisende Mitarbeiter des LBM Rheinland-Pfalz hat sich dieses Mal allerdings etwas mehr Mühe gegeben, mir zu erklären, dass meine Kritik (einmal mehr) völlig unberechtigt wäre.

Hierbei dokumentierte er allerdings ein anderes, von mir seit Jahren beobachtet werdendes Problem: Das Land Rheinland-Pfalz betrachtet die StVO und die Verwaltungsvorschriften als bloße Empfehlungen. Und meint, jene bei jeder sich bietenden Gelegenheit aushebeln zu dürfen. So auch hinsichtlich der eindeutig formulierten VwV zum Zeichen 276 StVO. Er leitet seine Stellungnahme mit einer kleinen historischen Lehrstunde ein.

die genannte Regelung der Verwaltungsvorschrift VwV zu Zeichen 276, Ziffer II., Rn. 2 wurde mit der Allgem. VwV zur Änderung der VwV-StVO vom 17.07.2009 eingeführt.

Die Änderungen der VwV standen unter der Zielsetzung „weniger Verkehrszeichen“.

Dabei sind vor allem die Allgemeinen VwV zu den §§ 39 ff StVO daraufhin überprüft worden, ob sie für die zuständigen Straßenverkehrsbehörden eine auseichende Hilfestellung in diesem Zielsinne bieten. Diese Hilfestellung soll es den Straßenverkehrsbehörden ermöglichen, vor Ort zu überprüfen, ob Verkehrszeichen überflüssig sind und diese Schilder „ohne Beeinträchtigung von Verkehrssicherheit und Verkehrsablauf entfernt werden können“. So in diesem Sinne ist auch die amtliche Begründung.

Die Straffung und Verschlankung der Vorschriftenlage der VwV-StVO stand insofern unter dem formulierten Ziel, einerseits weniger Verkehrszeichen aufzustellen, andererseits und gleichzeitig aber sollte der Verzicht auf Verkehrszeichen nicht zu einer Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit und des Verkehrsablaufes führen.

Danke. Das ist ja noch relativ nachvollziehbar wiedergegeben. Kommen wir nun zur rheinland-pfälzischen Auslegung des Bundesrechts.

Der Abbau des „Schilderwaldes“ um „jeden Preis“ kann und darf nicht zu Lasten der Verkehrssicherheit und damit dem Schutz von Leben und Gesundheit der Verkehrsteilnehmer gehen.

Moment. Der LBM meint also, dass der Bund in der VwV zu Zeichen 276 eine Regelung erlassen hat, die die Verkehrssicherheit beeinträchtigt und Menschenleben gefährdet?

Aus diesem Grund wurde von der obersten Verkehrsbehörde RP in Abstimmung mit der oberen Verkehrsbehörde RP hierzu folgende abweichende Einzelfallregelungen gem. VwV. zu § 46 Abs. 2 StVO zugelassen:

Halt. Bevor wir weiter den Ausführungen des LBM lauschen, schauen wir doch zuerst einmal, was im § 46 (2) StVO steht? Einschließlich dessen, wie dieser Paragraph (amtlich) überschrieben ist.

Ausnahmegenehmigungen, Erlaubnisse und Bewohnerparkausweise

(2) Die zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten Stellen können von allen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle oder allgemein für bestimmte Antragsteller genehmigen. Vom Sonn- und Feiertagsfahrverbot (§ 30 Absatz 3) können sie darüber hinaus für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken Ausnahmen zulassen, soweit diese im Rahmen unterschiedlicher Feiertagsregelung in den Ländern (§ 30 Absatz 4) notwendig werden. Erstrecken sich die Auswirkungen der Ausnahme über ein Land hinaus und ist eine einheitliche Entscheidung notwendig, ist das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zuständig; die Ausnahme erlässt dieses Bundesministerium durch Verordnung.

Sorry – aber wie zum Henker kommt der LBM Rheinland-Pfalz bitteschön auf die Idee, den § 46 StVO, der sich faktisch ausschließlich um das Thema Ausnahmegenehmigungen von StVO-Vorschriften dreht, als Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen, um seinerseits Behörden(!) einen Freifahrtschein zu geben, gegen Regelungen in den vom Bund erlassenen Verwaltungsvorschriften zu verstoßen? Und zwar, indem er meint, die VwV zu Zeichen 276 aushebeln zu dürfen.

Zur VwV zu Zeichen 276

Die Prüfung und Entscheidung zur Einrichtung/Beschilderung von Überholverboten kann und muss stets anhand der jeweils vorherrschenden örtlichen und verkehrlichen Randbedingungen erfolgen. Die in Ziffer II. zu Zeichen 276 enthaltene Regelung entzieht den örtlich zuständigen Fachdienststellen jedoch von vornherein die Option im Einzelfall zur Erhöhung und Gewährleistung der Verkehrssicherheit auch Zeichen 276 aufstellen zu können, falls das Überholen bereits durch Zeichen 295 unterbunden ist. Diese Beschränkung des straßenverkehrsbehördlichen Entscheidungs- und Ermessensspielraums kann – trotz der verkehrspolitischem Zielsetzung zur Reduzierung des „Schilderwaldes“ – nicht im allgemeinen Interesse der Verkehrssicherheit liegen. Abweichend von Ziffer II der VwV zu Zeichen 276 wird hiermit im Einvernehmen mit der oberen Verkehrsbehörde RP gem. VwV zu § 46 Abs. 2 (Rn. 148) bestimmt, dass die Straßenverkehrsbehörden auf der Grundlage des § 45 Abs. 9 StVO nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen im Einzelfall auch über die Aufstellung eines eventuell zusätzlichen Zeichen 276 zu entscheiden haben.

Wo steht eigentlich geschrieben, dass an derartigen Stellen keine Zeichen 340 statt Zeichen 295 angeordnet und aufgemalt werden können? Die Kurzfassung lautet jedenfalls: „Wir in Rheinland-Pfalz wissen es besser als der Bund. Und ignorieren (Verstöße gegen) Regelungen, die uns nicht passen.“ Aus der natürlich ebenfalls nicht passenden VwV zu § 46 (2) StVO wird hier auch noch die falsche Randnummer (148 statt 147) zitiert. In Rn. 147 steht:

Die zuständigen obersten Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen können von allen Bestimmungen dieser Allgemeinen Verwaltungsvorschrift Abweichungen zulassen.

Ja, können Sie. Abweichungen. In Bezug zu den Ausnahmegenehmigungen im Sinne des § 46 (2). Dazu gehört nicht die VwV zu Zeichen 276 StVO. Abschließend behauptet der LBM:

Die grundsätzliche Regelung der VwV zu Zeichen 276, Ziffer II., Rn 2 ist damit nicht aufgehoben worden; es wurde lediglich davon abweichend gem. VwV. zu § 46 Abs. 2 zugelassen, im konkreten Einzelfall zum Zeichen 295 auch das Zeichen 276 auf der Grundlage des § 45 Abs. 9 StVO anordnen zu können, wenn dies für die Verkehrssicherheit erforderlich ist. Die Kombination von Z 295 und Z 276 StVO ist daher keineswegs von vornherein in RP „regelmäßig fehlerhaft“.

Der LBM hat schlicht und ergreifend keinerlei rechtliche Befugnis, untergeordneten Behörden zu gestatten, im Einzelfall eine VwV des Bundes zu ignorieren. Vor allem nicht auf Basis des § 46 StVO. Dieser würde es grundsätzlich (und rein theoretisch) nur ermöglichen, einzelne Verkehrsteilnehmer auf Antrag hin vom Überholverbot zu befreien. Die Behörden ordnen diese Beschilderung auch nicht im „Einzelfall“ so an; sie prüfen gerade nicht die Erforderlichkeit, sondern stellen sie einfach auf.

Der Mitarbeiter des LBM hat mir in seinem Schrieb auch nicht Datum und Aktenzeichen des Erlasses des Ministeriums oder des LBM genannt. Auch das ist dem Grunde nach ein weiterer veritabler verkehrs- und verwaltungsrechtlicher Skandal. Und auch mit diesem wird sich nun das Bundesministerium für Verkehr beschäftigen.

Schreibe einen Kommentar